Wesenstest – Momentaufnahme oder echte Hilfe?

Warum wir über einen Paradigmenwechsel nachdenken sollten

Ein Vorfall – und plötzlich steht alles auf dem Kopf

Deine Fellnase hat gebissen. Vielleicht war es aus Angst, vielleicht aus Überforderung oder weil die Situation für euch beide einfach zu viel war. Doch auf einmal stehst Du vor dem Veterinäramt. Es gibt eine Anzeige, und die Behörde ordnet einen Wesenstest an.

Für viele Hundehalter in Niedersachsen, in Hannover, Hildesheim und Umgebung klingt das wie ein endgültiges Urteil. Doch was steckt wirklich dahinter? Und vor allem: Ist ein solcher Test überhaupt eine gerechte Einschätzung?

Was passiert nach einem Biss? – Der offizielle Ablauf

  1. Anzeige: Nach einem Biss wird das Ordnungs- oder Veterinäramt informiert.
  2. Gefährlichkeitsfeststellung: Amtstierärzte der Veterinärbehörde entscheiden, ob Dein Hund als gefährlich eingestuft wird – oft allein nach Aktenlage. Schon jetzt bekommst Du massive Auflagen: erhöhte Hundesteuer, Maulkorb- und Leinenpflicht, ein ausbruchsicheres Grundstück. Der Stempel „gefährlich“ steht damit fest, lange bevor Du mit Deinem Hund überhaupt die Chance hast, Dich zu zeigen.
    👉 Grundlage dafür ist das Niedersächsische Hundegesetz (NHundG).

Eine Tierärztin, mit der ich im Rahmen eines Klientenfalls (Odin – Ein Praxisfall – Hilfe mein Hund kommt nicht zur Ruhe!) zusammenarbeite, hat mir ihre Sicht dazu geschildert. Sie führte über viele Jahre Wesenstests durch und kennt das System von innen. Heute fällt es ihr schwer, diese Praxis noch mit ihrem Gewissen zu vereinbaren. Besonders kritisch sieht sie, dass nicht Verhaltensexperten entscheiden, sondern Amtsveterinäre, die den Hund oft gar nicht selbst erlebt haben.

Welche Auflagen Dich in Hannover konkret erwarten, findest Du im Merkblatt NHundG der Region Hannover (PDF).


3. Anordnung: Wesenstest: Erst danach wird der Wesenstest angeordnet. Besteht Dein Hund ihn, darf er weiter unter sehr strengen Auflagen gehalten werden. Doch selbst dann gilt er formal als gefährlich – die Hundesteuer bleibt hoch, und Auflagen wie Maulkorb- oder Leinenpflicht werden nur selten vollständig aufgehoben.
👉 Wie dieser Test offiziell aufgebaut ist, beschreibt die Broschüre „Niedersächsischer Wesenstest“ (PDF).

4. Nicht-Bestehen: Fällt Dein Hund im Test durch, folgen weitere Auflagen – im schlimmsten Fall sogar die Abgabe oder Einschläferung. Der Weg zurück in ein normales Leben wird fast unmöglich.

 

Wer prüft – und wie läuft ein Wesenstest ab?

In Niedersachsen sind es meist ermächtigte Tierärzte, Amtsveterinäre oder Hundetrainer mit spezieller Zulassung. Sie stellen Deinen Hund in künstliche Situationen:

  • Begegnungen mit fremden Menschen oder Hunden
  • Bedrohungsgesten oder plötzliche Reize
  • Wegnahme von Futter oder Spielzeug
  • ungewohnte Geräusche oder Bewegungen

Das Verhalten Deines Hundes wird beobachtet und bewertet: Zeigt er Aggression? Bleibt er kontrollierbar? Reagiert er ansprechbar auf Dich?

Das klingt erst einmal sinnvoll – doch in Wahrheit ist es nichts anderes als eine Momentaufnahme.
👉 Eine wissenschaftliche Auswertung von 127 Fällen, die zwischen 2003 und 2013 an der Tierärztlichen Hochschule Hannover untersucht wurden, findest Du in der Dissertation Riedel (2014, PDF).

Die Schwächen dieses Systems

  • Ein einziger Tag, eine Stunde, ein fremder Ort: So lässt sich das Wesen eines Hundes nicht fair beurteilen.
  • Stressfaktor: Viele Hunde sind in dieser Situation überfordert und zeigen Verhaltensweisen, die sie im Alltag nie oder nur selten zeigen.
  • Keine Ursachenanalyse: Warum es zum Biss kam – Angst, Schmerz, Überforderung – wird nicht betrachtet.
  • Großer Ermessensspielraum: Je nachdem, wer testet, können Ergebnisse sehr unterschiedlich ausfallen.
  • Massive Folgen: Von Maulkorb- und Leinenzwang bis zur Euthanasie.

Warum Hunde überhaupt beißen – Ursachen statt Stempel

Ein Biss ist kein „Charakterfehler“. Er ist ein Signal. Ursachen können sein:

  • Angst und Unsicherheit
  • Mangelnde oder belastende Erfahrungen (häufig bei Tierschutzhunden)
  • Überforderung in bestimmten Situationen
  • Schmerzen oder gesundheitliche Probleme
  • Fehlende Orientierung – oft, weil Du selbst unsicher oder ängstlich reagierst

Das zeigt: Ein Biss erzählt immer eine Geschichte. Und diese Geschichte wird im Wesenstest nicht hinterfragt.

Die Rolle des Menschen

Sehr oft liegt die Verantwortung beim Halter – nicht aus böser Absicht, sondern aus Unwissenheit oder Unsicherheit.

  • Fehlendes Wissen über Hundeverhalten
  • Managementfehler im Alltag
  • Ängste, die sich direkt auf Deinen Hund übertragen

Das heißt: Auch wenn Dein Hund beißt, sind es häufig die Menschen, die nicht rechtzeitig die richtigen Werkzeuge an der Hand hatten. Und genau deshalb wäre ein therapeutischer Ansatz so wichtig.

Ein Blick nach Norwegen – wie es anders geht

In Norwegen läuft es anders. Dort gibt es nicht nur einen Test, sondern eine Verhaltenskartierung (Atferdskartlegging):

  • Dein Hund wird nicht in einer einmaligen Stresssituation geprüft, sondern über mehrere Termine beobachtet.
  • Gespräche mit Dir als Halter sind verpflichtend: Du musst darlegen, wie Du Deinen Hund führst und welche Maßnahmen schon ergriffen wurden.
  • Statt einer alleinigen Beurteilung durch Amtsveterinäre wird ein interdisziplinäres Team hinzugezogen – Tierärzte, Verhaltensexperten, Trainer.
  • Nach einigen Monaten wird geprüft: Haben sich die Reaktionen Deines Hundes verändert? Wie hast Du als Halter die Auflagen umgesetzt?
  • Erst dann wird entschieden, ob Auflagen aufgehoben oder angepasst werden.

Der Unterschied ist deutlich: In Norwegen ist es ein Prozess – bei uns ein Stempel.

Und was ist mit den anderen Fällen?

Bei aller Kritik am Wesenstest darf man eines nicht vergessen: Es gibt auch Halter, die nicht unverschuldet betroffen sind. Menschen, die Hunde als Statussymbol nutzen, sie wissentlich scharf machen oder sogar „zur Waffe“ ausbilden.

Hier braucht es einen klaren Blick: Nicht der Hund ist das Problem – er ist das Opfer falscher Haltung.
In solchen Fällen sollte die Verantwortung nicht beim Tier bleiben, sondern viel stärker beim Menschen liegen.

Das könnte bedeuten:

  • Enge Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft, Veterinärämtern und Verhaltensexperten.
  • Klare Strafen, die nicht nur Geldbußen sind, sondern auch konkrete Auflagen wie Arbeit im Tierschutz oder verpflichtende Schulungen.
  • Denn nur so wird sichtbar, wer wirklich verantwortlich ist – und Dein Hund selbst gerät nicht weiter unter Druck.

Fazit – warum ein Paradigmenwechsel nötig ist

Wesenstests in ihrer heutigen Form sind keine gerechte Lösung. Sie beurteilen nur den Moment, nicht die Ursachen.
Was wir brauchen, ist ein neuer Weg:

  • Ursachen verstehen
  • Verhaltenstherapie integrieren
  • Halter und Hund als Team begleiten
  • Fortschritte regelmäßig überprüfen

So entsteht echte Sicherheit – und gleichzeitig ein fairer Umgang mit unseren Fellnasen.

Und du bist Betroffener?

Du möchtest jetzt etwas tun – nicht erst warten, bis irgendwann ein Paradigmenwechsel stattfindet?
Du möchtest selbst verstehen, warum Deine Fellnase so reagiert – und nicht nur einen Stempel tragen?

Das kannst Du tun:

  • Nachschauprüfung beantragen: In Niedersachsen kannst Du beim Veterinäramt eine Wiederholung des Wesenstests beantragen. Das geschieht nicht automatisch, sondern nur, wenn Du aktiv wirst.
    👉 Hinweise dazu findest Du im Serviceportal Hannover.
  • Die Zeit sinnvoll nutzen: Zwischen Erst- und Nachtest kannst Du mit Deinem Hund viel verändern. Über eine ausführliche Anamnese finden wir heraus, welche Ursachen hinter seinem Verhalten stehen.
  • Therapie und Begleitung: Mit gezielten Schritten zu Stressabbau, klarer Kommunikation und Sicherheit – für Dich und Deinen Hund.
  • Dokumentation für das Amt: Fachlich fundierte Begleitung und Berichte können beim Veterinäramt den Unterschied machen.

So bist Du nicht machtlos. Du kannst heute anfangen, Verantwortung zu übernehmen und Deinem Hund eine faire Chance zu geben.

Und vielleicht willst Du sogar noch mehr bewegen?
Du kannst ein Beispiel sein – für andere Halter, für die Behörden, für einen echten Paradigmenwechsel. Indem Du Dein Mensch-Hund-Team nicht nur entlastest, sondern Schritt für Schritt wieder zu mehr Entspannung, Sicherheit und Zufriedenheit findest, zeigst Du: Veränderung ist möglich.

 

 

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Mein Einzelcoaching und meine persönliche Verhaltensberatung werden Dich und Deine Fellnase auf dem Weg zu einem entspannten Miteinander begleiten.

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