Ein Spaziergang voller Spannung – warum Ziehen an der Leine so häufig vorkommt
Kennst du das?
Du gehst mit deiner Fellnase zur Haustür, der Spaziergang soll eigentlich schön werden – und noch bevor du überhaupt den Schlüssel drehst, spürst du, wie die Spannung in der Leine schon da ist. Kaum öffnet sich die Tür, zieht dein Hund nach vorn. Du atmest tief durch, bleibst stehen, wechselst die Richtung – aber egal, was du tust, die Leine bleibt straff. Und während du dich fragst, warum dein Hund einfach nicht versteht, dass Ziehen nichts bringt, spürst du selbst, wie dein Körper immer angespannter wird.
Viele Menschen erzählen mir, sie hätten schon alles ausprobiert: stehen bleiben, Richtungswechsel, Futter, Körpersprache, Hundeschule. Und immer wieder dieselbe Erfahrung – es klappt mal kurz, dann ist alles wieder wie zuvor. Vielleicht hast auch du diesen Gedanken schon gehabt: „Der gehorcht mir einfach nicht.“
Doch genau hier beginnt der eigentliche Blickwechsel.

Wenn der Körper übernimmt – der Oppositionsreflex beim Hund
In dem Moment, in dem dein Hund die Leine spürt, verändert sich in seinem Körper etwas. Der Druck auf Hals oder Brust aktiviert automatisch das Nervensystem. Es ist ein uralter Reflex, der tief im Körper verankert ist – der sogenannte Oppositionsreflex. Wenn etwas zieht, drückt der Körper dagegen. Dieses Verhalten ist kein Ungehorsam, sondern ein Schutzmechanismus zur Stabilisierung.
Gleichzeitig prasseln draußen jede Menge Reize auf deinen Hund ein: Gerüche, Bewegungen, Licht, Geräusche. Noch bevor er bewusst reagieren kann, springt sein Körper an. Herzschlag und Muskeltonus steigen, Hormone wie Adrenalin bereiten ihn auf Bewegung vor. Das Gehirn schaltet in den orientierenden Modus – es will wahrnehmen, bewerten, handeln.
All das geschieht, bevor dein Hund überhaupt hören kann, was du sagst.
Das Ziehen an der Leine ist also nicht Ausdruck von Ungehorsam, sondern ein sichtbares Zeichen dafür, dass sein Körper bereits im Aktivierungsmodus ist – lange bevor der Spaziergang richtig begonnen hat.

Wenn Lernen blockiert ist – was im Nervensystem deines Hundes passiert
n diesem Zustand kann dein Hund kaum lernen.
Das Nervensystem arbeitet im sogenannten sympathischen Modus – also in erhöhter Alarmbereitschaft. Der Körper bereitet sich auf Bewegung oder Verteidigung vor, während die Gehirnareale, die für ruhiges Denken, Wahrnehmen und Lernen zuständig sind, in den Hintergrund treten.
Viele Halter versuchen genau in diesem Moment, über Training gegenzusteuern: stehen bleiben, Kommandos geben, mit Futter locken. Doch Lernen funktioniert nur, wenn dein Hund sich innerhalb seines „Fensters der Toleranz“ bewegt – also in einem Zustand, in dem er Reize noch verarbeiten kann, ohne überflutet zu werden.
Wenn er außerhalb dieses Fensters ist, nimmt er Signale kaum wahr. Dann ist sein Körper buchstäblich „übernommen“ – der bewusste Zugang ist blockiert.
Aus Sicht der modernen Neuropsychologie spricht man hier vom polyvagalen System, also der feinen Abstufung zwischen Sicherheit, Aktivierung und Schutz. Solange der Körper sich nicht sicher fühlt, bleibt der Hund im Modus „Anspannung“. In dieser Phase wirken Signale kaum – der Körper hat das Steuer übernommen, um zu schützen, nicht um zu gehorchen.

Warum klassisches Leinenführigkeitstraining oft nicht reicht
Klassisches Leinenführigkeitstraining geht häufig davon aus, dass der Hund nur verstehen müsse, dass Ziehen nicht erwünscht ist. Aber das Problem liegt selten im Verstehen – sondern im körperlichen Zustand.
Viele der Hunde, die ich in meiner Praxis begleite, zeigen genau dieses Muster: innere Anspannung, fehlende Regulation, übersteigerte Erregung. Diese Hunde stehen regelrecht „unter Strom“ – nicht, weil sie trotzig sind, sondern weil ihr Nervensystem nicht mehr herunterfährt.
Wenn man dann mit Druck, Korrekturen oder ständigen Ansagen reagiert, verstärkt man oft genau das, was man eigentlich lösen will: Spannung.
Führung entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Sicherheit. Und Sicherheit entsteht, wenn dein Hund dich als verlässliche Konstante erlebt – in Stimme, Körpersprache, Tempo und Klarheit. Es geht also nicht darum, wer „vorne läuft“, sondern, ob beide Nervensysteme miteinander in Verbindung stehen.
Darum spricht man in der Verhaltenstherapie auch von Regulationsarbeit: Erst wenn das Nervensystem in Balance kommt, kann Lernen überhaupt stattfinden. Ein Hund, der sich sicher fühlt, kann sein Verhalten anpassen – nicht, weil er muss, sondern, weil er kann.

Mensch und Hund in Verbindung – Co-Regulation an der Leine
Auch wir Menschen sind Teil dieses Systems. Wenn du dich ärgerst, unter Druck stehst oder selbst schon erwartest, dass dein Hund gleich wieder zieht, reagiert dein Körper ebenfalls – Muskelspannung, Atmung, Herzfrequenz.
Dein Hund spürt das sofort. Er liest dich viel genauer, als du denkst. Und in dem Moment, in dem du unbewusst „gegenhältst“, gleicht er dich aus – er zieht stärker.
Leinenführigkeit ist also keine technische Übung, sondern ein emotionaler Dialog.
Zwei Körper, zwei Nervensysteme, die sich gegenseitig beeinflussen – man nennt das Co-Regulation.
Je ruhiger und klarer du wirst, desto leichter kann auch dein Hund sich wieder regulieren.
Genau das ist der Kern des Blickwechsels:
Nicht „was soll ich tun, damit er endlich hört“, sondern „was braucht er – und was brauche ich – damit wir beide uns sicher fühlen können“.

Warum klare Regeln Sicherheit schaffen
Natürlich bedeutet das nicht, dass es keine Grenzen geben darf. Im Gegenteil. In einem gesunden MenschHundTeam gibt es Regeln, die Sicherheit schaffen – für beide. Etwa dann, wenn wir Straßen überqueren, Begegnungen managen oder Situationen einschätzen müssen.
Aber eine Regel ist nur dann wirksam, wenn sie verstanden wird. Ein Hund, der sich sicher fühlt, kann sie leichter einhalten. Ein Hund, der sich im Alarmzustand befindet, wird sie immer wieder übertreten – nicht aus Absicht, sondern, weil sein Körper keine andere Wahl lässt.
Genau deshalb ist Verhaltenstherapie keine Frage von Disziplin, sondern von Verständnis und Regulation. Erst wenn der Körper Ruhe zulässt, kann Gehorsam entstehen. Nicht umgekehrt.

Ausblick: Wie aus Ziehen wieder Verbindung wird
Im nächsten Teil :
Gehen wir tiefer darauf ein, wie du erkennst, wann dein Hund noch im „Lernfenster“ ist, was du tun kannst, um ihn zu regulieren, und wie aus Ziehen Schritt für Schritt wieder Verbindung wird.
Wenn du dich in diesem Thema wiedererkennst und mehr über den Zusammenhang zwischen Emotion, Körper und Verhalten erfahren möchtest, melde dich gern bei mir.
Manchmal beginnt Veränderung genau dort, wo wir aufhören zu kämpfen – und anfangen zu verstehen.
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